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Minen-Fluss

greenpeace magazin 6.08

Nach jahrelangem Kampf ist es Umweltschützern gelungen, den artenreichen und sauberen Strom Una im Nordwesten Bosniens unter Schutz zu stellen. Doch die Idylle trügt: Sowohl im Flussbett als auch im neuen Nationalpark liegen noch immer gefährliche Blindgänger und Minen.

Die Una hat es ihm angetan. Wann immer er auf sie trifft, krempelt Denijal Selimovi die Ärmel hoch, taucht beide Hände ins smaragdgrüne Wasser und nimmt zur Begrüßung einen kräftigen Schluck. An ihrem Ufer ist er groß geworden, schon als Kind badete er in der kalten Strömung, und nach Feierabend durchwatet der Angler den klaren Fluss. Tausendfach hat er die Una mit seiner Kamera porträtiert, mal zeigt sie sich wild, mal tiefgründig und dann wieder ganz träge. Ein Naturparadies in Bosnien, das seit Mai dieses Jahres unter Schutz steht.

Doch die Idylle trügt. Wer sich der Una nähert, sollte jemanden wie Denijal an seiner Seite haben. Er weiß, was nur wenige wissen: wo genau im Flusstal bis heute Minen lauern – auch wenn weit und breit keine Warnschilder zu sehen sind. Denn Denijal Selimovi arbeitet seit zehn Jahren als Inspektor beim Mine Action Center (MAC) in Bihac, einer kleinen Stadt im Nordwesten des Balkanstaates.

Minenfelder im Nationalpark? Was eigentlich nicht sein darf, ist in Bosnien bittere Realität. Der mehr als 200 Kilometer lange Fluss steht zur Hälfte unter Schutz. Zum Una-Nationalpark gehören darüber hinaus rund 198 Quadratkilometer meist hügelige Fläche, zwei davon gelten als Gefahrenzone.

Im MAC-Büro fährt Denijal mit dem Cursor auf dem Bildschirm den Flusslauf entlang. Über weite Strecken grenzt die Una an Kroatien. Beide Ufer sind übersät mit roten Punkten, jeder einzelne markiert ein Minenfeld. Erscheint eine genau umrissene Fläche auf den Plänen, ist Größe und Lage der Gefahrenzone schon bekannt. In einem solchen Fall haben Denijals Kollegen vorhandene Armee-Unterlagen ausgewertet und vor Ort all jene Menschen befragt, die wissen könnten, wo während des Krieges Minen verlegt wurden. Trotz der vielen Punkte und roten Flächen entlang des Flussbetts verfolgt der Präsident des Kantons Una-Sana, Šemsudin Dedic, das ehrgeizige Ziel, den gesamten Nationalpark in zwei Jahren minenfrei zu bekommen. Noch fehlen ihm allerdings etliche Geldgeber.

Während den Kantonschef vor allem die Aussicht auf florierenden Tourismus und neue Arbeitsplätze in seinem Engagement beflügeln, steht für Umweltschützer der ökologische Wert des Tales im Vordergrund. Denn die Una ist – wie schon ihr Name nahelegt – weltweit einzigartig: Durch den hohen Kalkgehalt des Wassers entstehen im Zusammenspiel mit Algen und einer konstanten Temperatur von maximal zwölf Grad Celsius Kalkstein-Formationen, über die das Wasser in die Tiefe rauscht. Auf diese Weise formten sich vor 90.000 Jahren die grandiosen Wasserfälle am bislang noch schwer zugänglichen Štrbaki Buk.

Während Rafter mit Schlauchbooten vorbeipaddeln, zwischen Felsen und durch Stromschnellen manövrieren, greift Denijal einmal kräftig in den Kalksteinbewuchs und reißt ein Büschel Grün heraus. Mit dem Zeigefinger durchforstet er die glitschigen Wasserpflanzen – bis sich einige kleine Kringel herauslösen, die auf seiner Hand zappeln: „Wo du diese winzigen Krebse findest, kannst du sicher sein, dass das Wasser erstklassig ist.“

Vildana Alibabic ist Professorin in Biotechnik, Ernährung und Toxikologie und darüber hinaus Vorsitzende von Ekus – einem Zusammenschluss mehrerer Umweltgruppen, die seit langem für den Erhalt der Una kämpfen. Schon vor einigen Jahren hat sie aus eigener Tasche Wasseranalysen bezahlt, die den Befund der Winzlinge bestätigen: „Keine Schwermetalle, keine Pestizide, so gut wie kein Ammoniak und auch kein Nitrat. Wie sauber die Una ist, konnten viele Wissenschaftler gar nicht glauben“, freut sich die 44-Jährige. Darüber hinaus ließ Ekus Messstationen entlang des Flusses aufstellen, die in kurzen Abständen Sauerstoffgehalt, pH-Wert, Temperatur sowie Wasserdurchfluss bestimmen. Und mit aller Kraft stemmten sich die Una-Freunde gegen das Vorhaben von Energieunternehmen, die Unac, einen der wichtigsten Una-Zuflüsse, aufzustauen. In nur acht Tagen sammelte Ekus mehr als 100.000 Unterschriften in der Region. Denn ein stehendes Gewässer, so erklärt Vildana, hätte die Wassertemperatur im ganzen Flusslauf erhöht und damit das gesamte Ökosystem empfindlich gestört. Spätestens mit der Einrichtung des Una-Nationalparks dürften diese Pläne endgültig vom Tisch sein.

In der Abendsonne steckt Denijal seine Angel zusammen und befestigt am Ende der 1,2 Millimeter dicken Perlonschnur eine selbstgebastelte Insektenattrappe. Eigentlich habe er Modedesigner werden wollen, erzählt der Mann aus Bihac, während er in die Angelmontur schlüpft. Doch als er damals – schon bald nachdem die Kriegsparteien Serbien, Kroatien und Bosnien 1995 das Daytoner Friedensabkommen unterzeichnet hatten – einen Job gesucht habe, habe das Land keine Modeschöpfer gebraucht, sondern Minenräumer.

Immer wieder wirft der 50-Jährige die Leine aus und zieht sie ruckartig zurück, doch heute will offensichtlich kein Fisch anbeißen. Um zu zeigen, welch prächtige Exemplare in der Una leben – allein im geschützten Flussabschnitt tummeln sich 21 verschiedene Fischarten – zückt der leidenschaftliche Fliegenfischer sein Handy. In seinem Fotoarchiv erscheinen Äschen, Forellen, Huchen, manche so groß, dass der Mann Mühe hat, sie hochzuheben. Nach der Aufnahme lässt der Sportfischer seine Beute übrigens wieder frei, nur ganz wenige landen auf dem Grill.

Schon heute zieht die Una Angler aus ganz Europa an, rund 4000 im Jahr. Auch Rafter und Kajakfahrer haben diesen zum Teil unberührten Strom trotz der Minengefahr für sich entdeckt. So lange diese Aktivitäten nicht in Massenveranstaltungen ausarten, laufen sie der Nationalparkidee nicht zuwider. Doch viele der 500.000 Menschen, die innerhalb der Grenzen des Nationalparks wohnen, sind verunsichert.

Sie wissen nicht, was noch erlaubt oder verboten ist. Deshalb will Ekus zunächst einmal den Leuten die Regeln erklären, die mit der Internationalen Naturschutzunion (IUCN) abgestimmt wurden. Grundsätzlich gilt: Alles, was das Ökosystem nicht beeinträchtigt – etwa biologische Landwirtschaft – ist unstrittig.

Andere Vorhaben, etwa Häuser zu bauen oder Wälder abzuholzen, ist dagegen streng reglementiert. Bleibt nur die Frage, wer die Einhaltung der Auflagen überwacht. Das noch fehlende Nationalpark-Management gehört zurzeit zu Vildanas größten Sorgen. Am liebsten sähe sie es, wenn die kleine Universität von Bihac diese Aufgabe übernehmen würde. Doch haben ihre Hochschulkollegen das gleiche Problem wie der Kantonschef: kein Geld! Auch wenn noch vieles ungeklärt ist, hält die kämpferische Frau an ihrer Vision fest, mit dem Nationalpark-Projekt Mensch und Natur eine nachhaltige Perspektive zu verschaffen: „Keine 30 Kilometer von hier lockt der kroatische Nationalpark Plitvicer Seen eine Million Besucher pro Jahr an. Einen Teil davon könnten wir ganz bestimmt auch für die Una begeistern.“

Plötzlich sorgt ein langes, schmales Etwas, das sich gemächlich durch die Fluten schlängelt, für Aufregung. Denijal springt auf, winkt aber gleich wieder ab: „Ach, das ist doch nur eine Wasserschlange“, sagt er, „davon gibt’s hier viele.“ Das Una-Tal beherbergt eine üppige Pflanzen- und Tierwelt. Eine Ekus-Studie listet die ganze Vielfalt detailliert auf: 150 Heilpflanzen, 68 wirbellose und 60 Wirbeltier-Arten, Grottenolme, Eidechsen, Schildkröten, Fischotter, Vögel, Insekten und Reptilien.

Želijko Mirković, Ekus-Mitstreiter und Sporttaucher, kennt so gut wie alle Una-Bewohner – sowie die Gefahr, die am Grund des Flusses verborgen liegt: Geschosse, Granaten, Munition, Minen. Želijko, selbst ausgebildeter Minenräumer, hat alle Funde auf Video dokumentiert, doch die Strömung kann deren Position jederzeit verändern. Am liebsten würde er die gefährliche Kriegshinterlassenschaft lieber heute als morgen rausholen. Aber noch ist völlig unklar, ob und wann das Flussbett geräumt wird.

Mehr als 700 Menschen sind im Kanton Una-Sana seit Kriegsbeginn durch Minen getötet oder verletzt worden. Vor allem entlang der früheren Frontlinie passieren immer wieder Unfälle. Erst diesen März wurden zwei bosnische Mitarbeiter der Deutschen Minenräumer (Demira e.V.) getötet. Einem dritten musste ein Bein amputiert werden. Als die Killermine des Typs Prom auslöste, waren die Männer gerade dabei, einen Uferbereich des Flusses Sprea zu räumen. Da die Minen in der Regel an oder direkt unter der Oberfläche liegen, werden beim Räumen die obersten zehn Zentimeter des Bodens abgesucht. Doch diese Mine lag unter einer 30 Zentimeter dicken Schlammschicht begraben, die der Fluss angeschwemmt hatte. Keiner hatte in dieser Tiefe mit der tödlichen Gefahr gerechnet.

Es kann jederzeit wieder eine Mine hochgehen, zumal viele Menschen im Una-Tal Landwirtschaft betreiben. Überall stehen Maisfelder – manche mitten im Minenfeld. „Hier schau“, sagt Denijal, als wir, keine 50 Meter vom Una-Ufer entfernt, anhalten. Von der Straße führt ein kleiner Pfad, den vermutlich Angler nutzen, durch hochgewachsenes Gras hinunter. Nirgendwo steht ein Warnschild. „Ich weiß, dass hier Minen liegen“, sagt Denijal, „hier können wir nicht ans Wasser.“
Der Begrüßungsschluck muss warten.

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Dank fürs Minenräumen
Rektor, Bürgermeister, Minenexperten und die lokale Presse – sie alle kamen, um dem Greenpeace Magazin für die Räumung des Berges hinter der Schule in Podzvizd zu danken. Zum Abschluss des dritten Minenprojekts ist auch Mirsad gekom­men. 1996 verlor er nach einem Minen­unfall beide Beine. Bald be­­kommt der 30-Jährige neue Pro­the­sen, die das Green­peace Magazin mit­finanziert. Mirsad dankt es mit einem Lächeln und mit sportlichem Einsatz: Seit kurzem spielt er Sitzvolleyball.
 
Text: Andrea Hösch
Fotos: Markus Feger